Hey, erzähl mal!

Erzähl mal

Edith Scheinecker

Die Routen sind unsere Symphonien
Mein Trainer ist der Dirigent
und ich spiele die erste Geige

Foto: Dimitri Dosidis

Aufgewachsen mit zwei Brüdern auf einem Bauernhof in Enns, spielt Bewegung für mich schon immer eine große Rolle. Aber seit beinahe 5 Jahren dreht sich in meinem Leben fast alles um den Sport, genauer gesagt um das Klettern.
Aber warum ausgerechnet Klettern?
Im Oktober 2002 wird nicht nur bei meinen beiden Kindern Matthias und Theresa, sondern auch bei mir eine unheilbare Augenerkrankung diagnostiziert. Eine Ärztin damals versucht uns den Stand der Forschung zu veranschaulichen. Man stelle sich eine Weglänge von Wien nach L.A. vor, zurückgelegt von einer Schnecke und diese befindet sich in St. Pölten. Mir ist sofort klar, wenn die Forschung in diesem Tempo voranschreitet, geht sich eine Heilung in meinem Leben (ich war 35 Jahre) nicht mehr aus und Wunder geschehen nun mal selten. Die Erkrankung ist unser treuer Begleiter
und wir verlieren stetig an Sehleistung.
Meine Kinder sind bereits fast zur Gänze erblindet, und auch ich bin inzwischen hochgradig sehbehindert. Im Laufe der Zeit mache ich mir immer mehr Gedanken, welche Sportart ich denn auch als blinder Mensch ausführen könnte. Nach nur kurzem Überlegen schlägt meine Tochter das Klettern vor. Das anhaltende Regenwetter bei ihrem nächsten Besuch kommt uns richtig gelegen. Wir suchen nach bequemer Sportkleidung, stopfen sie in unsere Rucksäcke und frohen Mutes geht es ab zum Bahnhof. Vorher erkunden wir noch den Standort der nächstgelegenen Kletterhalle. Linz/Auwiesen heißt unser Ziel. Voller Elan geht es ran an die Boulderwände, klettern rauf und runter und von links nach rechts und umgekehrt. Der Muskelkater am nächsten Tag ist schnell vergessen, belohne mich alsbald mit einer Jahreskarte und die Halle wird zu meinem Wohnzimmer. Ich lerne nach und nach Leute kennen und versuche mich beim Seilklettern. Bald werde ich als Talent entdeckt. Sandra, ihre Eltern waren damals die Betreiber der Halle, jetzt in Pension, meldet mich zum Trainingslager der Paraclimber in Salzburg an. Nervös und nichtsahnend was mich erwartet, trete ich meine Reise dahin an. Wir schreiben den 7. Dezember 2017 und ich zähle 50 Lenze und 6 Monate. Innerhalb kürzester Zeit schaffe ich es aufgrund der Aufnahmekriterien in das Nationalteam der Paraclimber und wechsle somit vom Breitensport zum Leistungssport.

Wer sind die Paraclimber?
Es sind Kletterer und Kletterinnen mit verschiedensten körperlichen Beeinträchtigungen. Die Einteilung erfolgt in mehreren Kategorien und diese sind wiederum in 3 Klassen unterteilt. Die Zuweisung erfolgt aufgrund ärztlicher Gutachten bzw Physiotherapeuten. Ich bin in der Kategorie B2 der hochgradig Sehbehinderten. Dann gibt es noch die Gruppe der leicht Sehbehinderten bzw die Klasse der völlig Blinden. Leider wird auch im Parasport immer mehr versucht, durch nicht wahrheitsgemäßer ärztlicher Atteste sich in leichtere Klassen zu schummeln. Auch bei uns geht es mittlerweile um Erfolg, Ansehen und der Leistungsdruck wächst, denn jeder möchte für internationale Bewerbe nominiert werden. Meinen ersten großen Erfolg darf ich beim Weltcup 2019 in Briancon verzeichnen. Ein wunderschönes auf ca 1300m Höhe gelegenes kleines Städtchen, die Kletterwand ausgerichtet mit Blick auf die befestigte Altstadt, es ist Sommer und wir messen 39°!! Mein Coach Marco und ich geben unser Bestes und fahren mit einer Bronzemedaille im Gepäck wieder nach Hause.

Foto: Christian Aufschnaiter

2020 werden alle Wettbewerbe coronabedingt abgesagt und uns bleibt nur, außer im ersten Lockdown, das Training. Dafür reiht sich 2021 ein Highlight nach dem anderen. Wir beginnen im Juni mit dem Weltcup in Innsbruck und mein Coach Marco und ich holen Gold. Im Juli geht es zum Weltcup nach Briancon und knüpfen an unseren Erfolg an. Es wird wieder eine Goldmedaille. Viel Zeit zum Ausruhen bleibt uns nicht, denn Anfang September findet die Weltmeisterschaft in Moskau statt und wir holen eine Silbermedaille. Gleich anschließend ist die österreichische Meisterschaft und Marco und ich belegen den 1. Platz. Abgeschlossen wird die Saison mit dem dritten und zugleich letzten Weltcup in Los Angeles und da dürfen wir noch einmal über einen Sieg jubeln. Zu Hause angekommen freue ich mich auf eine wohlverdiente Kletter- und Trainingspause. Die Saison war schön aber anstrengend und brauche neben der Erholung auch Zeit, um die ganzen Eindrücke zu verarbeiten. Mit beinhartem Training, äußerster Disziplin,
richtiger Ernährung und meinem guten Körpergefühl habe ich es nicht nur in das Nationalteam geschafft sondern habe auch auf dem internationalen Parkett des Klettersports Platz genommen, bin in der Kletterszene und bei den internationalen Fotografen und Journalisten ein Begriff. Hört und liest sich das alles auch noch so gut an, so dürfen so manche Hürden und Hindernisse nicht vergessen werden. Anfangs bin ich immer wieder auf mich alleine gestellt, beende das Training mit zwei Trainern, da sie mit meiner Beeinträchtigung nicht zurechtkommen. Untrennbar verbunden mit Sport, vor allem aber mit Leistungssport, ist das Thema Verletzungen, von denen ich natürlich auch nicht verschont bleibe. Nicht übersehen darf man, dass wir zwar immer als Team dargestellt werden und auftreten, wir aber einen Einzelsport ausüben und somit herrscht nicht nur gute Stimmung unter der Kollegschaft. Und wie bereits erwähnt, ist es doch das Ziel jedes/r Athleten/in, zu internationalen Bewerben entsendet zu werden. Die Entsendungskriterien werden vom Kletterverband und den Trainern gemeinsam erarbeitet und vereinbart.

Foto: Slobodan Miskovic
Foto: Jasmin Plank

Warum formuliere ich immer mein Coach Marco und ich?
Für uns Sehbehinderte bzw Blinde ist das Zusammenspiel von Trainer/in und Athlet/in das Wichtigste überhaupt. Sie sind es, die uns den Verlauf der Routen erklären, die Art der Griffe und die Wand (senkrecht, geneigt) beschreiben und dirigieren uns mit Anweisungen zum nächsten Griff bzw Tritt. Mein Coach und ich sind mit einem Funkgerät verbunden und ich versuche so schnell wie möglich seinen kurzen und hoffentlich präzisen Anleitungen zu folgen. Nur so spart man Zeit und folge dessen Kraft. Wir haben genauso wie die Normalos 6min Zeit, um das Top zu erreichen. Wir unterscheiden uns darin, dass wir keinen Vorstieg gehen, sprich, wir hängen uns das Seil nicht selber ein. Im Training gehe ich natürlich auch im Vorstieg. Weiters sollten die Trainer/innen die Routen gut lesen können, das heißt eine Vorstellung haben von deren Verlauf, was verlangen sie vom technischen Können, sie sollten auf die Körpergröße und, ganz wichtig, auf den Kletterstil ihrer Athleten und Athletinnen eingehen.

Wie sieht mein Training aus?
Seit nun genau 4 Jahren bin ich im Nationalteam. Meine Trainingsstätte ist in erster Linie die Kletterhalle in Linz/ Auwiesen und werde seit 2 Jahren von Hermann, ehemaliger Hallenbetreiber und der so an mich glaubte, gratis! trainiert, da sich leider kein/e Trainer/in für Linz für das Paraclimbing gefunden hat. Weiters finden noch regelmäßige Trainingslager in Innsbruck statt und dann fahre ich noch zusätzlich nach Graz. Da werde ich von Marco trainiert und er ist es auch, der mich zu den Bewerben begleitet, der mich betreut, da ich in fremder Umgebung ohne Hilfe nur schwer bis gar nicht zurechtkomme. Halle alleine ist jedoch zu wenig, zu Hause steht Kraft- und Ausdauertraining am Programm. Unerlässlich das fast tägliche Dehnen, um Verletzungen aber vor allem Sehnen- und Muskelverkürzungen vorzubeugen. Ideal dazu ist noch ein Ausgleichssport. Aber auch mal die Seele baumeln lassen, Gast auf der Couch oder der Gartenbank zu sein darf natürlich mit gutem Gewissen geschehen.

Erholung und Ausgleich finde ich auch in meinem Garten oder besser gesagt Naturgarten. Ich erfreue mich an meinem eigenen Obst und Gemüse, das nicht in Reih und Glied gepflanzt ist und der Löwenzahn und die Brennnessel mit dem Salatkopf und Brokkoli in wunderbarer Symbiose leben. Gerne verbringe ich Zeit an meiner Nähmaschine, greife auch immer wieder zu Wolle und Stricknadel und lasse dabei meiner Fantasie, meiner Kreativität freien Lauf, ist das Ganze auch nicht immer einfach durchzuführen. Ich liebe Bücher, höre gerne Musik (Blues, Jazz, Klassik) und bin begeisterte Ö1 Hörerin und koche gerne und täglich frisch.

Warum erzähle ich meine Geschichte?
Wir suchen dringend Nachwuchs!! Es ist mir aber auch ein Anliegen zu zeigen, dass Sport, Bewegung mit Beeinträchtigung möglich ist. Es ist leider Tatsache, dass Sport mit Handicap in der Gesellschaft noch immer nicht angekommen ist und das will und kann ich einfach nicht akzeptieren. Fast täglich und überall hört und liest man von der Gleichberechtigung, von Inklusion, von Gleichstellung. Aber wo bleiben die Berichte über die Erfolge von Menschen mit Beeinträchtigung? Nicht zu vergessen, profitieren doch die Sportverbände von Inklusionssport. Fakt ist auch, dass wir Paraclimber nicht olympisch sind, die Normalos schon und zwar nur deswegen, weil es ein Nationalsteam für Paraclimber gibt. Wo bleiben die Berichte von Frauen mit Beeinträchtigung und deren Erfolg(e)?

Foto: Dimitri Dosidis

Ich erzählte mehreren Zeitungen von mir bzw vom Paraclimbing, sie gebeten sich zu überlegen, ob meine Geschichte eventuell ein Bericht wert sei. Von etlichen bekomme ich nicht einmal eine Antwort. Ich möchte mich nicht in das Rampenlicht stellen, sondern es ist mir ein Bedürfnis, Gleichgesinnten Mut zu machen, sich zu bewegen, Sport zu betreiben, Sportstätten aufzusuchen, denn auch wir haben das Recht dazu und dürfen uns nicht an den Rand der Gesellschaft drängen lassen. Ich brauche kein Mitleid aber auch Bewunderung alleine ist zu wenig. Wir Menschen mit Beeinträchtigung haben es schlichtweg verdient, in die Gesellschaft eingebunden zu werden. Wir haben keine besonderen Bedürfnisse sondern in gewissen Dingen benötigen wir (mehr) Hilfe. Ein besonderes Anliegen sind mir Kinder und Jugendliche. Sie müssen sich ganz einfach wieder mehr bewegen, sie müssen Freude an der Bewegung finden, es müssen dafür auch die Rahmenbedingungen geschaffen werden. Ich möchte ihnen, egal ob mit oder ohne Behinderung, verständlich machen, wie wichtig Bewegung bzw Sport ist. Sie gewinnen dadurch an Selbstvertrauen, das Selbstwertgefühl steigt, sie setzen sich Ziele, sie gewinnen Freunde, lernen verlieren aber auch streiten und ganz wichtig: es beugt Depressionen vor und fördert guten Schlaf. Und Kinder und Jugendliche mit Behinderung fühlen sich mit den Normalos gleichgestellt und sind in der Gesellschaft gleichwertig integriert. Ich möchte auch an die Eltern von Kindern und Jugendlichen mit Handicap appellieren, ihnen mehr zuzutrauen. Meine Kinder und ich haben unsere Erkrankung angenommen, wir haben trotz unserer Behinderung gelernt, das Leben selbständig zu meistern, unseren Humor nicht verloren, aber danke sagen wir für unser Schicksal nicht, denn manchmal erscheint uns das Leben, der Alltag einfach nur mühsam. Aber die Freude in mir überwiegt und diese möchte ich hinaustragen in die Welt.
Ich darf mich noch kurz vorstellen
Ich heiße Edith Scheinecker, wohne in Enns und bin hochgradig sehbehindert. Ich habe zwei Kinder, Matthias 33 Jahre und Theresa 30,5 Jahre sowie einen Enkelsohn Jack 13 Jahre. Ich kann es selber kaum glauben, ich bin 1967 geboren und bin mit meinen fast 55 Jahren weiltweit die älteste Leistungssportlerin im Paraclimbing und das nicht nur hinsichtlich der weiblichen sondern auch der männlichen Athleten. Immer wieder werde ich gefragt, wieviel ich denn verdiene. Meine Antwort: keinen Cent. Im Gegenteil, ich zahle mir sogar noch viel selber, mitunter auch die Jahreskarte für die Halle. Parasportler/innen finden nur selten bis gar keine Sponsoren. Traurig aber wahr. Die finanzielle Unterstützung ist auch von Bundesland zu Bundesland verschieden. Da ich von Oberösterreich keine Hilfe erwarten durfte (Trainerkosten für Marco in Graz) wechselte ich zu den steirischen Naturfreunden und starte natürlich auch für den steirischen Verband, der von den Naturfreunden, Alpenverein und vom Land Steiermark unterstützt wird. Wenn es meine Gesundheit erlaubt, nehme ich auch heuer wieder an den internationalen Bewerben teil. Mit dem Training dafür habe ich bereits im Dezember begonnen. Auf dem Programm stehen drei Weltcups, beginnend mit Salt Lake City, gefolgt von Innsbruck und abgeschlossen wird die Serie in der Schweiz in Villars. Zum Abschluss möchte ich mich noch bei allen Lesern für ihre Zeit bedanken und darauf hinweisen, dass, falls jemand Interesse hat, auf YouTube die meisten Weltcups von uns Paraclimbern nachgesehen werden können.

IFSC Paraclimbing World Cup Briancon 2021 (ab min 41 bin ich zu sehen)
IFSC paraclimbing World Cup Los Angeles 2021 (ab min 31:26 bin ich zu sehen)


Text: Edith Scheinecker

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