Hey, erzähl mal!
Erzähl mal
Doris Weninger
Hoi, meine Lieben!
Ich darf mich heute hier vorstellen, was mich sehr freut. Ich finde nämlich, dass man seine Erfahrungen mit einer Erkrankung auf jeden Fall teilen sollte. Vielleicht profitiert ja irgendwer davon.
Ich bin Doris und lebe seit 20 Jahren mit der Diagnose Multiple Sklerose. Ja, ich LEBE damit und mein Leben ist, trotz mittlerweile deutlicher Einschränkungen, durchaus sehr lebenswert. Ich werde nun ein bisschen was davon erzählen:
Die Geschichte meiner MS
Vor ziemlich genau 21 Jahren, im Frühjahr 2001, befand ich mich gerade im Endspurt meines Medizinstudiums, genauer gesagt bereitete ich mich gerade auf meine vorletzte Prüfung vor. Neurologie… Dazu muss man sagen, dass man in jedem Fach immer zuerst ein Praktikum hatte, in welchem man die genaue fachärztliche Untersuchung von Patient*innen beigebracht bekam, und sich danach noch durch hunderte Seiten Theorie ackern musste um reif für das Rigorosum zu sein. Im Fall der Neurologie lernte man also, wie man sämtliche Reflexe, Sinnesorgane, die Sensibilität, die Motorik und so weiter überprüft. Üben sollte man das natürlich auch, und das machte man – mangels echter Patient*innen – bei den Kollegen und Kolleginnen und bei sich selbst.
Hier wurde ich das erste Mal stutzig, da einige Reflexe nicht wie erwartet abliefen, und noch dazu nicht seitengleich, außerdem wiesen auch einige andere Zeichen bei der neurologischen Untersuchung darauf hin, dass mit mir wohl irgendwas nicht stimmte. Aber sowas ignoriert man am besten zuerst einmal. Man muss ja eine Prüfung ablegen, und das ist in dem Moment das Wichtigste.
Als es dann mit dem Lernen stressiger wurde, hatte ich – retrospektiv betrachtet – wohl meinen ersten richtigen Krankheitsschub. Irgendwie sah ich mit dem rechten Auge „anders“ als mit dem linken. Was mit dem linken Auge rot war, war mit dem rechten Auge pink. Links grün, rechts türkis. Und irgendwie schien die Welt rechts etwas diesig zu sein…
Und schon hatte ich – noch vor dem Neurologie-Rigorosum – meine erste waschechte neurologische Patientin. MICH.
Und als Paradestreberin stellte ich natürlich prompt die richtige Verdachtsdiagnose: Multiple Sklerose mit rechtsseitiger Sehnervenentzündung. Als ich das meiner Kollegin und Freundin unterbreitete, sagte die: „Du hast nicht MS, du hast einen Vogel!“. Ich hoffte wirklich sehr, dass sie Recht hatte! Der Vogel wäre mir lieber gewesen… Sie wurde übrigens nicht Neurologin.
Nach dem Neurologie-Rigorosum waren der Stress und bald auch der Schub und damit die Sehstörungen verschwunden und ich war wieder sorgenfrei. Erst ein Jahr später, ich war gerade in der Turnusausbildung im Krankenhaus tätig und ziemlich überlastet, weil ich rund 80 Stunden pro Woche arbeiten musste, kamen die Symptome zurück. Nun konnte ich das nicht mehr ignorieren. Es kamen Augenarztbesuch (der findet üblicherweise nichts), Neurologe, MRT und noch einiges anderes und dann wurde die Diagnose offiziell gestellt.
Mein (ja bereits zweiter) Schub wurde, wie das so üblich ist, mit Cortison-Infusionen behandelt und ich wurde zur Schubprophylaxe auf Copaxone (eine tägliche Spritze unter die Haut) eingestellt.
6 Monate später kam der nächste Schub – wieder eine Sehnervenentzündung – aber danach nahm dank des Copaxone die Schubhäufigkeit deutlich ab und ich erfreute mich einige Jahre guter Gesundheit. 2005 wurde meine erste Tochter Olivia geboren und 2009 dann die zweite, Rosalie. Da es mir bis auf ein paar wenige und eher leichte Krankheitsepisoden bis dahin recht gut gegangen war, schlug mein damaliger Neurologe vor nach der zweiten Schwangerschaft mal ohne Therapie zu bleiben, worüber ich seinerzeit natürlich sehr froh war. Ob dieser Schritt klug war, wage ich heute zu bezweifeln.
Unmerklich schlichen sich langsam kleinste Symptome ein, die ich erst rückblickend als solche erkannte. Wenn ich zum Beispiel mit klassischen „Schlapfen“ unterwegs war, machten der Rechte und der Linke beim Gehen immer unterschiedliche Geräusche – was ich natürlich auf die Pantoffeln schob! Interessanterweise rutschte mir auch immer wieder mal rechts der Socken bis unter die Ferse runter, links nie. Kryptische Zeichen, die ich nicht zu deuten wusste.
2014 erkrankten dann kurz nacheinander zuerst mein Vater und dann meine Mutter schwer. Das war ein schwieriges Jahr für die ganze Familie und vor Weihnachten kamen dann deutliche und auch neue Symptome, nämlich eine spürbare Schwäche im rechten Bein und auch im rechten Arm bzw. in der rechten Hand, was sich beim Schreiben bemerkbar machte. Also gab es nach vielen Jahren wieder mal 3 Tage Cortison-Infusionen und die Probleme gingen dadurch deutlich zurück. 2015 starb dann leider mein Vater und meine Mutter kämpfte sich durch Chemo- und Immuntherapien durch.
Mein Cortison Gesicht
Sturz folgen
Ich selbst entdeckte für mich das Laufen und war in dieser Zeit recht sportlich unterwegs und verlor auch einiges an Gewicht, wodurch ich insgesamt mit mir selbst zufriedener wurde – was es mir wiederum etwas leichter machte mit dem Tod meines Vaters und der Krankheit meiner Mutter umzugehen.
Leider fing aber bald mein rechter Fuß an immer am Ende meiner Laufrunde am Boden zu streifen. Zuerst nach 8 Kilometern, dann nach 6, dann nach 5 und so weiter. Gemeinsam mit dem damaligen Neurologen entschied ich dann wieder mit dem Copaxone zu beginnen, was aber das Fortschreiten der Symptome nicht verhindern konnte. Es folgten Versuche mit Immunglobulin-Infusionen und Gilenya – leider ohne den gewünschten Erfolg. Meine Krankheit hatte sich hinterhältig und scheinbar schon bevor ich es überhaupt selbst bemerkte, von einer schubhaften in eine kontinuierlich fortschreitende Form umgewandelt. Offenbar gibt es aber –zusätzlich zur kontinuierlichen Verschlechterung – immer noch eine gewisse aufgepfropfte Schubaktivität, die ich dann mit Cortison abzufangen versuche, was immer wieder auf‘s Neue einer Art Exorzismus gleicht (Ödeme, Schwäche, Kreislaufprobleme…)…
Meine MS heute
Mein rechtes Bein hat mittlerweile ausgeprägte Lähmungen in allen Muskelgruppen, auch der rechte Arm und die rechte Hand haben deutlich an Kraft eingebüßt. Blasen- und Darmentleerung und auch meine Sexualität funktionieren nicht mehr wie früher, aber damit lernt man zu leben. Alles dauert nun länger. Sensibilität und Schmerzsinn sind in beiden Beinen und Armen reduziert, wobei mich das im Moment nicht allzu sehr einschränkt.
Laufen kann ich nicht mehr. Nordic Walking geht auch nicht mehr. Das Gehen ist schlecht, ich habe mittlerweile einen Stock. Den benütze ich aber nicht immer – was aber vermutlich klüger wäre, da ich auch immer wieder mal stürze. Aber das mit dem Stock kostet Überwindung, muss ich sagen, obwohl man mir die Behinderung eh schon aus kilometerweiter Entfernung ansieht…
Dafür bin ich seit 2020 stolze Besitzerin eines E-Bikes, dessen rechtes Pedal mein erfinderischer Mann für mich präpariert hat und ich bin damit mittlerweile rund 2.500 Kilometer gefahren.
Das Symptom, das mich wohl am stärkten einschränkt, ist die Müdigkeit. Ich musste daher meine Arbeitszeit schon stark reduzieren, weil ich jeden Nachmittag buchstäblich flachliege, und zwar stundenlang. Das wäre, für sich gesehen, ja nicht so schlimm – ohne Schmerzen zu liegen und nichts zu tun, denn dabei geht es mir ja nicht schlecht. Aber es geht so viel Lebenszeit drauf. Zeit, während der ich was arbeiten könnte und während der alles mögliche im Haushalt liegen bleibt.
Zeit, während der ich Rad fahren, was mit meiner Familie unternehmen, Freundinnen treffen oder musizieren könnte…
Das alles klingt sehr traurig, nicht wahr? Trotzdem bin ich keine traurige Figur!
Wer bin ich eigentlich?
Ich bin Ehefrau und Mutter, Ärztin – genauer gesagt Arbeitsmedizinerin, zum Glück nach wie vor auch Tochter einer sehr taffen Mutter, ich bin Schwester, Freundin, Radfahrerin, Hobbymusikerin, Hobbyköchin, Hobbyschreiberin… und ferner natürlich doch auch Patientin und ganz ein bisschen auch noch sowas wie eine Hausfrau (aber nicht gern).
Ich definiere mich über das, was geht und nicht über das, was nicht geht. Ich kann zum Glück (noch) gehen – wenn auch nicht besonders gut, ich kann Auto fahren, Rad fahren, arbeiten gehen, für meine Kinder da sein, mich um unsere Wäsche kümmern, kochen und backen, Freund*innen treffen bzw. einladen, singen, Lieder schreiben, Gitarre spielen, mit dem Elektroroller fahren (wenn’s mal weiter zu gehen ist), im Notfall auch Stiegen steigen (aber besser kann ich Lift fahren).
Und ich kann mich glücklicherweise komplett um mich selbst kümmern.
Früher war ich öfters bei der Pediküre, aber seit es beschwerlicher wird, gehe ich nicht mehr hin, weil ich stur bin.
Meine Mottos sind „Geht ned gibt’s ned“ und „das Leben muss Spaß machen!“ und der erste Satz, den ich mir zurecht legte, als meine Diagnose ganz frisch war, war: „Ich rege mich über ein Symptom erst dann auf, wenn es da ist und keinen Tag früher!“. Damit bin ich immer gut gefahren und ich habe diesen Satz auch vielen meiner Patient*innen mitgegeben, auch welchen ohne MS.
Meine Familie
Mein Mann Hannes hat mich mit meiner Diagnose geheiratet, wobei ich zu dieser Zeit kaum Beschwerden hatte. Vorgestellt hatte er sich das alles sicher wesentlich einfacher als es im Endeffekt gekommen ist. Er ist derjenige, der die meisten Auswirkungen zu spüren bekommt, denn er ist der, der fit und gesund ist und trotzdem wegen mir vieles nicht machen kann, das vielleicht auf seinem Plan gestanden wäre, vor allem was gemeinsame Urlaube, Reisen oder Freizeitaktivitäten angeht; besonders jetzt, wo die Mädels groß werden. Zum Glück hat er viele gute Freunde, die mit ihm mountainbiken, schifahren, bergsteigen… gehen.
Er unterstützt mich, wo er kann und scheut keine Kosten und Mühen um mir das Leben leichter zu machen.
Unser letztes Projekt war ein großer Umbau im Haus, im Zuge dessen wir einen Aufzug und eine neue Stiege bekommen haben. Ich bin sehr glücklich, dass ich ihn habe und dass er immer derartig hinter mir steht (also der Mann UND der Lift).
Meine Mädels hatten mit mir zum Glück noch ein paar Jährchen ein „normales“ Leben, wo ich noch ziemlich fit war. Aber in den letzten Jahren sind sie zunehmend mit meiner Behinderung konfrontiert und müssen mich auch mehr und mehr unterstützen, was sie auch tun.
Sie sind tolle, tüchtige und glücklicherweise sehr selbständige Mädchen und wir haben keine nennenswerten Sorgen mit ihnen. Insgeheim hoffe ich immer, dass sie durch mich nicht zu viel an Unbeschwertheit einbüßen müssen – andererseits weiß ich natürlich, dass Kinder, die in einem Haushalt mit einer behinderten Person aufwachsen, meist eine besonders hohe soziale Kompetenz erlangen, was für mich sowieso immer schon ein wichtiger Punkt im Leben war. So oder so habe ich allen Grund sehr, sehr stolz zu sein.
Seit einigen Monaten gibt es nun auch noch Matthias in unserer Familie, einen „Neuzugang“ an der Seite unserer Größeren, der hervorragend zu uns dazu passt und dem wir am liebsten gleich einen Fixplatz zuteilen würden. Aber man will ja natürlich nichts überstürzen!!
Ja, und die Katze Keksi ist übrigens auch super!
Meine Arbeit
Ärztin aus Leidenschaft, das trifft zu 100 Prozent auf mein früheres Ich zu. Haupthobby Medizin, je blutiger, umso besser und ein Helfersyndrom hatte ich sowieso.
Erst wollte ich Gynäkologin werden, aber das passte dann zeitlich nicht mit der Familienplanung zusammen. Danach war der fixe Plan die Ordination eines älteren praktischen Arztes zu übernehmen, wenn dieser sich in den Ruhestand begeben würde.
10 Jahre hatte ich ihn (und auch andere Kolleg*innen) regelmäßig vertreten, bis mir der Fortschritt meiner Erkrankung dazwischen funkte und ich mich schweren Herzens gegen die Karriere als Hausärztin mit eigener Praxis entschied, weil ich mit meiner unsicheren Prognose die Verantwortung weder für mein künftiges Personal noch für eine Menge Patient*innen übernehmen wollte.
Und ehrlich gesagt – für mich und meine Familie wollte ich sie schon gar nicht übernehmen, wusste ich doch, wie fordernd dieser Job sein würde und dass jeder Stress eine Verschlechterung meines Krankheitsverlaufs bedeuten könnte.
ein paar wenigen Stunden Arbeitsmedizin pro Woche. Im Lauf der Zeit kristallisierte sich allerdings mehr und mehr heraus, dass der Job als Arbeitsmedizinerin zu meiner MS wesentlich besser passte als der als praktische Ärztin. Besser planbar, stressärmer, risikoärmer (da man nicht mit Kranken, sondern mit Gesunden zu tun hat, was von Vorteil ist, wenn man zeitweise immunmodulierende Medikamente einnehmen muss) und nicht zuletzt auch recht lukrativ, wenngleich auch deutlich weniger spannend als die „richtige“ Medizin…
Ich und „meine MS“
Sie war und ist in meinem Leben die strengste Lehrerin. Sie hat mir so viel beigebracht!
Sie hat mich gelehrt die schönen Dinge nicht zu übersehen. Nein, ich suche sie sogar. Warum? Weil ich sonst vielleicht doch wahnsinnig werden würde…
Als ich nicht mehr laufen konnte und stattdessen gehen (walken) musste, sah ich plötzlich Käfer und Blümchen am Wegesrand, die ich beim Laufen nicht gesehen hätte. Aber sowas muss man sich aktiv bewusst machen.
Sie hat mich gelehrt mich selbst zu lieben. Auch ohne High Heels, humpelnd mit ein paar Kilos zu viel. Sie hat mich gelehrt Hilfe anzunehmen. Früher ein NoGo. Heute kein Problem mehr. Von einem jüngeren Herrn die Hand gereicht zu bekommen wenn da eine Stufe ist und diese dann auch zu ergreifen – das hat auch was!
Und wie gesagt – „Sag niemals nie“ hat sie mir auch beigebracht. Ich mochte früher nie walken („uncool“), nicht radfahren („fad“), keine Arbeitsmedizin („blöd“), keine flachen Schuhe
(„unsexy“) und vieles mehr…
Wo wäre ich heute ohne MS?
Vielleicht wäre ich eine verhärmte, ausgebrannte praktische Ärztin mit Kassenordination, mit kaum Urlaub, wenig Zeit für die Familie, Wochenenddiensten, den Idealismus verloren, vielleicht schon im Burnout? Wer weiß…
Nun, das klingt ja fast, als wäre ich froh darüber, dass ich sie habe. Das bin ich natürlich nicht. Aber ich versuche nach Möglichkeit nicht mit dem Schicksal zu hadern.
Das Leben zu nehmen.
Und wer nach links und rechts schaut, sieht, dass die meisten anderen Menschen auch irgendeinen mehr oder weniger schweren Rucksack mitschleppen. Meine MS bestimmt meine Geschwindigkeit, meine Pausen, die Schuhe, mit denen ich gehe und, dass ich manchmal falle.
Aber wo ich hin gehe, entscheide ich immer noch selbst!
Text und Bilder: Doris Weninger-Wailzer